First Cut Then Grow

Früher sagte man: cut&grow. Rohlinge wurden innerhalb eines Jahres zurückgeschnitten und dann wieder wachsen gelassen. Von Anfang an. Es wurde auch regelmässig mit Opfertrieben gearbeitet. Manche empfehlen in den ersten Jahren auch starkes Wachstum im Freiland oder Teichpflanzkörben. Dabei wird völlig ignoriert, dass Rohlinge am Anfang nur wenige Äste und kaum Verzweigung haben und somit eben auch nur schwach wachsen.

Merksatz: first cut then grow

Ich finde es mittlerweile viel sinnvoller, wenn Bäume im Aufbau zuerst nur auf Verzweigung geschnitten werden, um schnellst möglich eine hohe Verzweigungstiefe zu erreichen. Die ersten Jahre schneide ich also Rohlinge ausschliesslich auf Verzweigung und ignoriere Dickenwachstum und Wuchsausgleich komplett.

Denn: Je mehr Zweige vorhanden sind, je mehr Zweige kann man später zum Dickenwachstum/Wachstumsausgleich nutzen. Das Gesetz der Potenzen. Jeder zusätzliche Level verdoppelt das Wachstum. Der Zuwachs ist dann enorm im Vergleich zu nur wenigen Trieben und lässt sich auch ideal steuern.

Bei den meisten Nadelbäumen kann man die neuen Knospen sehr schnell direkt im Neuaustrieb erkennen (Lärche, Fichten, Kiefern), bei den meisten Laubbäumen sitzen neue Knospen schnell erkennbar in den Blattachseln (Linden, Ulmen etc) oder wachsen zuverlässig innerhalb der Blattstände (Ahorne). Diese kann man sofort auf zwei vorhandene Knospen schneiden und ebenso beim zweiten, dritten oder vierten Austrieb im Jahr verfahren. Durch den sofortigen Rückschnitt produziert man mehr Austriebe als bei cut&grow. Und erhält auch mehr Rückknospung. So bekommt man mindestens zwei Verzweigungslevel pro Jahr dazu. Bei gegenständigen oder sehr wüchsigen Pflanzen (insbesondere Sträuchern wie Forsythien, Pfaffenhut oder Weigelien) kann man durch sofortigen Rückschnitt aber auch 3-4 neue Verzweigungslevel erzeugen.

Die meisten Bäume bekommt man so innerhalb von nur 2 oder 3 Wachstumsperioden auf Level 6-8. Dabei ist es jedoch wichtig, beim Verzweigungsschnitt den richtigen Zeitpunkt und die richtige Schnitttechnik für jede Art zu kennen (dazu später mehr), um das Maximum an Verzweigung und Neuaustrieben zu erreichen.

Ist ein hohes Level (ab Level 6 z.B.) erreicht, wird nach der cut-Phase nur noch der Erstaustrieb auf Verzweigung geschnitten (da der Erstaustrieb im Jahr zumeist mit kurzen Internodien erfolgt bzw. kurz gehalten werden kann, wenn der Austrieb schnellst möglich beschnitten wird). Der zweite Austrieb (der im Vergleich zum Erstaustrieb zumeist die Langtriebe bringt) wird dann schon zum Dickenwachstum/Wachstumsausgleich genutzt. Nach zumeist 4-5 Jahren ist die gewünschte Silhouette und Verzweigungstiefe erreicht und jeglicher Austrieb wird nur noch zum Wachstumsausgleich oder zum Dickenwachstum genutzt.

Beispiel einer Sandbirke im grow-Modus. Mit den über 150 Langtrieben ist der eigentliche Baum nur noch zu erahnen.
Partieller Rückschnitt. Oben schon zweiter Austrieb, unten Dickenwachstum.

Die Vorteile der first-cut-then-grow-Methode sind eminent.

  • mit oft beschnittenen Austrieben wird der Baum in den ersten Jahren während der cut-Phase schnell auf die gewünschte Verzweigungstiefe und Sihouette gebracht
  • während der cut-Phase braucht zumeist nicht umgetopft werden. Der Baum wird somit nie geschwächt. Seine Resourcen werden auf einen häufigen Austrieb konzentriert. Sinnvollerweise wählt man schon eine zur geplanten Silhouette passende Schale bevor man mit der cut-Phase beginnt und lässt den Baum hineinwachsen
  • er legt dann anschliessend während der grow-Phase in ebenfalls nur wenigen Jahren enorm an Dicke zu
  • Opfertriebe sind zum Dickenwachstum nicht mehr nötig, da die Triebe zum Dickenwachstum nicht ab-, sondern auch nur wieder am Ende des Jahres auf Verzweigung geschnitten werden
  • obwohl ein enormes Dickenwachstum erreicht wird, gibt es keine grossen Schnittstellen mehr, da sich alle Schnittstellen am Ende der Zweige befinden
  • mit der Masse an Verdickungstrieben lässt sich während der grow-Phase ein passender Wuchsausgleich sehr geziehlt vornehmen
  • das enorme Wachstum im Laubbereich während der grow-Phase führt auch im Wurzelbereich zu optimalen Wachstum, einem gut verzweigtem Ballen und somit zu einem gesunden Baum
  • im Freiland gezogene Rohlinge haben einen grossen Wurzelballen der erst mühsam wieder für eine optisch passende Schale reduziert und abgeflacht werden muss. Bei der first-cut-then-grow-Methode wird der Ballen sogleich in eine passende Schale gesetzt und der Laubbereich von Anfang an passend zur Schale geplant. Stamm-, Ast- und Zweigdicke wird in der grow-Phase angepasst

Level System

Level System zur Planung, Optimierung und zum Vergleich eines Baumes

Folgendes System habe ich ausgedacht, um die Verzweigungstiefe eines Baums mit anderen vergleichen zu können.

Ich gehe davon aus, dass man an jeder Verzweigung immer auf 2 Zweige geht, nicht auf 3 oder mehr. Das vereinfacht das Zählen.

Der Stamm ist Level 0. Das erste Internodium eines Ast, der direkt am Stamm ansetzt und dann bis zur ersten Verzweigung geht, ist Level 1. Dann folgt also die erste Verzweigung, es geht an beiden Zweigen weiter bis zur nächsten Verzweigung, Level 2. Nun ist die Anzahl der Endzweige wieder verdoppelt, bis zu nächsten Verzweigung bekommen wir Level3 usw …

Ist Ausgewogenheit das Ziel, sollte der Level an jedem Ast über den ganzen Baum verteilt gleich oder nahe beieinander sein. Weiter oben natürlich mit kürzeren Internodien als unten, aber schon mit gleichem Level. Ein Baum, der z.B. in der Spitze ein Level6 hat und unten nur Level 3 sieht eher „schütter“ aus (bei Penjings ist das aber gerne mal der Fall). Ein Baum, der mittig mehr Level als oben und unten hat, wirkt eher „klotzig“. Ein Baum, der unten deutlich mehr Level in den Ästen hat als oben, sieht irgendwie „unfertig“ aus. Ein Baum, der bis aussen Level 8 hat, aber innen viele Zweige mit vielleicht nur Level3, sieht irgendwie künstlich aus. Bei sehr wilden Gestaltungen, Halbkaskaden oder Literaten, ist ein gleichmässiger Level in der Verzweigung nicht so wichtig, bei einem streng aufrechten Baum aber eminent. Bei naturalistischen Gestaltungen ist es z.B. auch normal, dass der Level nach oben hin abnimmt. So wachsen Bäume nunmal. Der Kronenbereich ist dabei jünger und hatte weniger Zeit zum Verzweigen.

Manchmal weiss man auch nicht ganz genau, warum ein Teil eines Baumes unpassend aussieht, obwohl die Dicke der Äste und Zweige durchgehend ähnlich ist. Dann zählt man ein bisschen und sieht, dass der Baum vielleicht durchgehend Level 8 hat, aber ein Ast nur Level 4. Daran merkt man, dass dort ein jüngerer Ast später hinzukam und mit Opfertrieben die Dicke korrigiert wurde. An der Verzweigungstiefe des Astes ändert das aber nichts.

Das gilt natürlich sowohl für Laub- als auch Nadelbäume.

Ab Level 6 oder 7 beginne ich bei Laubbäumen mit Verdickung und Wuchsausgleich. Das macht, wenn die Verzweigung ideal wachsen konnte, schon 32 bzw. 64 Enden. Pro Ast ! Ab Level 8 würde ich einen Baum als in der Verfeinerungsphase befindlich einstufen. Die Verzweigung ist dann schon so gut, dass ich den ohne Zögern auf einer AK-Ausstellung anmelden würde. Level 10 ist für mich in etwa Landesniveau. Alles ab Level 12 und drüber ist m.M.n. Weltklasse. Diese wirken unglaublich alt und reif (ich habe schonmal einen Bonsai mit Level 15 gesehen, das ist aber extrem selten).

Das System muss man jetzt nicht so betrachten, dass man jeden Baum mathematisch aufbauen sollte. Mir hilft es. Um zu sehen, wo der Baum steht, wie harmonisch er gebaut und wie reif er wirklich ist. Und wenn man das System bricht, erahnt man wenigstens, was für ein Effekt dadurch erreicht wird.