Kolumne XVI: In der Bonsai-Metzgerei

Ach, ich bin es so leid, immer wieder diese sinnlosen Pflegehinweise für die Wachstumsphase unserer Bonsai zu lesen. Von jedem kommen andere. Hier im Forum, in jeder Zeitschrift, in jedem Buch. Da steht dann was von „im Juli zurückschneiden“ und „Kerzen auf 3cm einkürzen“ und „Ahorne immer pinzieren“. Blödsinn, sag ich. Macht keinen Sinn, wenn mein Apfel früh treibt, ich eine Shohin-Kiefer habe und mein Ahorn übers ganze Jahr dauernd Neuaustriebe macht. Passt doch gar nicht zu meinem Baum. Bei nur zwanzig Arten, hat man schnell 500 Termine zu beachten und 1000 Regeln zu befolgen.

Hab ihr mal eine Herz-OP live gesehen ? Ne ? Sucht mal im Netz nach einem Video. Da wird einem nicht schlecht, weil es zu blutig ist. Nein, das ist alles abgedeckt, abgeklemmt und clean. Da gibt es so wenig Blut wie auch nur möglich, alles andere wäre ja auch schlecht für den Patienten. Nein, da wird einem schlecht, wenn man sieht, wie der Chirurg wie ein Berserker durch den Körper geht, den Rippenbogen mit martialischen Metallklammern auseinanderbiegt und an Eingeweiden herumzieht, um die richtigen Positionen zu finden oder an die richtige Stelle zu kommen. Das ist echt heftig. Hinterher hat der Patient überall blaue Flecke und Gelenkschmerzen an Stellen, an denen er gar keine Gelenke hat.

Mein Rasen bekommt 3-mal pro Woche den Mulchmäher von unten zu sehen und sieht genau deshalb besser als alles Vergleichbare in der Nachbarschaft aus. Für Bonsai ist das bei mir ähnlich.

Solange der Baum gesund und kräftig gewachsen ist, kann man alles machen. Hardcore, deftig, ruppig und immer wieder. Pflanzen können das ab. Eine Rückknospung ist die von der Evolution erprobte Methode, um mit dauernden, kleinen Misshandlungen umzugehen. Und die kriegen meine Bonsai täglich. Da sowieso alles beim Giessen kontrolliert wird, kann man auch jederzeit eingreifen. Da muss man nicht auf einen Termin warten, um einen Ahorn zu schneiden. Wächst ein neuer Trieb zu lang ? Ab. Hat irgendein Ast an einer Esche auf einmal drei Blattpaare, kommt eins weg. Oder in der Krone halt gleich zwei davon. Ist ein Ast an einer Lärche noch zu dünn, darf er durchtreiben. Sollen Äste an einem Apfel noch aufholen, kommen die Blüten ab. Ist irgendeine Kerze zu lang geworden, wird sie eingekürzt und nicht erst, wenn der Baum sinnlos weitere Kraft in die Kerze gesteckt hat. Ist ein Ast in der falschen Position, wird er gedrahtet oder abgespannt. Rechtzeitig und nicht erst nachdem er verdickt ist. Also sofort.

Walter Pall arbeitet in der Aufbauphase (und wohl gerne auch mal später) auch wie ein Metzger, bzw. mit der Heckenschere. Richtig so. Aber sorgt durch Substrat und durchs Düngen eben auch immer für gesunde Bäume. Er macht es halt nur ein bis zweimal pro Jahr und dafür brutal, ich mach immer nur ein bisschen, aber eben auch immer.

Warum sollte etwas dran bleiben, wenn es vertrocknet ist ? Oder zu lang ? Schlecht verzweigt ? Oder zu dicht gewachsen und damit andere Bereiche beschattet? Ein Ast an einem Laubbaum nach oben wächst ? Mumpitz. Weg damit. Täglich. Da muss ich nicht warten, bis der nach oben wachsende Ast lang und dick geworden ist und die Schnittstelle dann unnötig gross wird. Schnipp, schnapp. Warum sollte man einen Baum nicht in eine grössere Schale umsetzen, wenn der Baum schwächelt ? Mitten im Jahr. Genau. Man macht ja nichts mit den Wurzeln, den Baum ärgert das exakt … gar nicht und hilft ihm hinterher deutlich. Oder eine andere Schale nehmen, die genauso gross ist, aber viel schöner. Das bisschen neu per Draht fixieren hat noch keinen Baum bei mir sterben lassen. Warum sollte ich denn einen Wachholder auf Termin pinzieren, wenn er gar keinen kräftigen Austrieb zeigt ? Nur weil August ist ? Was soll meine Schwarzkiefer mit den ganzen alten Nadeln, wenn der Neuaustrieb schon richtig weit fortgeschritten ist und ausreicht, um den Baum zu versorgen ? Und die zu dichte Krone schon untere Bereiche beschattet.

Dann hat der Baum halt dauernd blaue Flecken, aber gleichzeitig immer nur wenige und ganz kleine.

Tut mir gar nicht leid, wenn ich die meisten Terminkalender als sinnlos hinstelle, aber meine Bäume halten sich leider nicht an sowas. Jede Art ist anders, und innerhalb jeder Art ist jeder Baum nochmals anders. Er wird so behandelt, wie er es braucht und nicht, wie er sich verhalten soll. Natur ist anders als Bücher. Termine machen nur Sinn, bis man gelernt hat, seine Bäume zu beobachten oder wenn 5000 Bäume in der Bonsaischule stehen und aus Zeitgründen alle gleich behandelt werden müssen. Dort wird dann keinerlei Rücksicht auf das einzelne Exemplar genommen, anders ist es bei der Menge eben nicht praktikabel. Bei meinen wenigen Bäumen geht das schon und diese spezifische Behandlung für jeden einzelnen Baum, für jeden Ast und für jedes einzelne Blatt bekommt den Bäumen gut. Die Schere liegt immer bereit (und zwar auch keine blödsinnige, spezielle Bonsaischere, sondern eine extrem scharfe und schwere Gärtnerschere, mit langen, spitzen Schneiden, damit komm ich überall ran und der Schnitt ist sauber und die Schere wird nach jedem Durchgang mit Desinfektionsspray behandelt und sauber abgewischt). Pinzieren ? Was für ein Aufwand. Mittiger Neuaustrieb an Laubbäumen wird geschnitten, der Rest fällt von selber ab. Genauso die Wacholder. Und die Kiefern werden wie Hühner gerupft. Dauernd, je nach Lichteinfall.

Auch der Boden wird dauernd gepflegt, nicht nur beim Umtopfen. Unkraut kommt raus, bevor es gross wird. Moos wird regelmässig nachgelegt und sehen Bereiche des Substrates verdichtet aus oder bedecken die Wurzeln nicht mehr so, wie es sein soll, wird ausgetauscht und nachgestreut.

Auch Totholz kann man jederzeit nacharbeiten. Jede Woche ein bisschen nervt keinen Baum. Und ist bestimmt besser als eine komplette Totholzgestaltung auf einer Demo mitten im Mai. Aber mal schnell einen gerade fertig zurückgetrockneten Aststumpf ausfräsen ? Eben.
Laubbäume wegen kleinerer Neupositionierung nur im Winter oder nur im Frühling zu drahten, hab ich leider auch nie verstanden. Sie biegen sich besser während des Wachstums und Mikrorisse heilen sofort. Muss man halt den Ast beobachten, wieviel er an Dicke zulegt. Und rechtzeitig wieder ab mit dem Draht und zwei Wochen später wieder dran, das ganze Jahr über.

Was antwortet Mr. Gibbs im Fluch der Karibik auf „Captain“ Jack Sparrows Frage: „Hab ich euch nicht gesagt, ihr solltet euch an den Kodex halten ?“
Mr. Gibbs: „Wir haben gedacht, das sind doch wohl eher … Richtlinien.“ Bravo, das ist die richtige Einstellung.

Und ein Baum, der nicht üppig gewachsen ist, wird gar nicht angefasst, sondern gefüttert.

… weiter …